Über away on leave
Ich heiße Daniel, komme 1983 im Marburger Hinterland in Hessen zur Welt und wachse dort auf. Was die Wohnhaftigkeit angeht, komme ich aus dem eigenen Postleitzahlengebiet nie heraus. Beruf und Leidenschaft tragen mich später um die Welt.
Gerne vergleiche ich mich heute mit einem nicht restaurierten Oldtimer. Sieht von außen ziemlich intakt aus. Aber wehe du machst die Haube auf. Dann kommen dir die Tränen.
Bis zum fünften Lebensjahr lebe ich im 3-Generationenhaus. Neurodermitis bis unter die Kinnlade und blind wie Paul (wie mein Onkel zu sagen pflegt). Nix besonderes. Beinahe jedes fünfte Kind braucht eine Brille und jedes siebte leidet an Neurodermitis. Damals Hypothese und heute belegt, führt schwere Neurodermitis häufig zu späteren Lungenleiden. Und so ist schon vor der Einschulung Asthma bronchiale mit am Start. So what! Augenarzt, Hautarzt und Lungenfacharzt praktizieren nicht grade um die Ecke von zuhause. Aber was kümmert das einen Jungen, wenn er mit der Eisenbahn fahren darf.
Die folgende Schulzeit – erste bis zehnte Klasse – alles Standard und nichts Besonderes. In der Elften habe ich wohl ein kleines Motivationsloch, worauf ich die Schule hinschmeiße und eine Berufsausbildung zum Elektroniker beginne. Den ersten routinemäßigen Besuch beim Betriebsarzt verlasse ich mit der Diagnose Mikrohämaturie. „Was soll das sein?“ „Sie pissen Blut!“ „Ah, sagen Sie das doch gleich. Muss wohl doch meine Brille nachjustiert werden.“ Denn zu sehen ist davon nix. Aber hier steht „Mikro“ für „mit dem bloßen Auge nicht sichtbar.“ So gesellen sich Nephrologe und Urologe zu Ophthalmologe, Dermatologe und Pulmologe.
Das Leben geht weiter. Und zwar wirklich nicht schlecht. Ich arbeite viel, treibe häufig Sport, abends und an den Wochenenden besuche ich die Technikerschule. Ich finde ausreichend Zeit für Freunde und bin zufrieden.
In Erinnerung bleibt mir bis heute der 30. September 2007. Ich komme vom Frisör und laufe mit einer Freundin über den Gießener Markt. Ziemlich abrupt macht sich ein unwohliges Gefühl breit. Bisschen wie Grippe. Das Ende findet der Tag in der Notaufnahme. Da mein Zustand kritisch ist, folgt eine Woche Vollpension im Uni-Klinikum. Ich kann mich an kaum was erinnern. Sicher aber an den Anschiss der Schwester, nachdem ich den Flur unter Wasser gesetzt habe. Scheinbar hing der Vorhang aus der Dusche.
Alles in Allem bin ich sechs Wochen außer Gefecht. Ungesicherte Diagnose: Bakterielle Infektion der Herzklappen. Ich denke das kommt hin. Denn seitdem ist meine Aortenklappe nicht mehr voll intakt. Jetzt zieht auch der Kardiologe regelmäßig mein Kärtchen durch den Leser.
Da nun kaum mehr Fachärzte übrig sind, die ich nicht schon regelmäßig mit einem Besuch beehre, beschließe ich etwas achtsamer mit mir umzugehen. Nicht dass ich vorher auf die Gesundheit geschissen hätte. Bewusst wird sie mir aber erst, als sie nicht mehr vorhanden ist.
Ich beschließe einen Orthopädiearzt aufzusuchen. Seit 15 Jahren tut mir der Rücken weh und die Nummer mit den orthopädischen Einlagen ist für die Katz‘. Ich bin etwas baff, wie viel Zeit man sich hier für mich nimmt. Jede Menge Untersuchungen und Erläuterungen für den Laien. Die Einlagen sind Geschichte. Dafür habe ich nun einen Wirbel zu viel. Beziehungsweise weiß ich jetzt, dass ich seit Geburt einen Wirbel zu viel habe und die Rückenschmerzen daher rühren. Willkommen jahrelange Physiotherapie!
Aus einem so invaliden Gaul würde man nicht mal Seife machen. In Summe finde ich es aber mehr nervig als furchtbar. Ich komme beruflich gut voran. Ich habe Spaß weltweit unterwegs sein zu können und ständig Neues zu lernen. 2014 verändert sich schleichend etwas. Ich schlafe schlecht, habe Probleme mit dem Gleichgewicht, kann meine Augen schwer fokussieren. Wortfindungsstörungen und starke Unterzuckerung. Zunächst vereinzelt, dann immer regelmäßiger. Anfang 2016 ist der Zustand so massiv, dass ich am Leben nicht mehr wirklich teilhaben kann. Die Ärzte sind ratlos. Und ich kenne wirklich viele Ärzte.
Der Aufenthalt in einer Spezialklinik soll der Suche und Entfernung eines insulinbildenden Tumors dienen. Das sei die wahrscheinlichste Erklärung für die wiederkehrende Hypoglykämie. Doch so einfach wird es nicht. Unzählige Verzichtserklärungen ziehen ebenso viele Untersuchungen nach sich. Bis nach einigen Wochen klar ist, was nicht stimmt. Die Hypophyse, ein lebensnotwendiges Organ im Kopf, kaum größer als ein Stecknadelkopf, stolpert nur noch vor sich hin. Kortikotrope Hypophysenvorderlappeninsuffizienz oder auch Morbus Addison genannt. „Ah! Jetzt wird mir alles klar!“ NICHT! Ich muss schon arg die Ohren spitzen, um Hergang und Auswirkung dieser seltenen Erkrankung erfassen zu können. Die Spezialisten forschen weiter, denn nicht alle Symptome sind typisch für die getroffene Diagnose. MRT und Labore führen zutage, dass die Hypophyse weitere Unterfunktionen aufweist und Nebennieren und Hoden ebenfalls ihren Dienst quittiert haben.
Nachdem nun auch ein Endokrinologe zu meinen Buddies gehört, wird mir immer klarer, was diese Diagnose bedeutet. Kurz: Ein Leben mit starken Medikamenten und trotzdem früher in die Grube fahren.
Das nimmt mich wirklich mit. Meine positive Einstellung zum Leben hält dieser Belastung nicht lange stand. Dabei bin ich enttäuscht wie viele Menschen sich in dieser Zeit abgewendet haben, weil sie nicht länger profitieren konnten. Ebenso froh und stolz bin ich über alle, die mir die Hand gehalten haben und immer zu mir standen. Und echt mal, mit mir war wirklich einige Jahr nicht viel anzufangen. In dieser Sache gilt mein Dank auch dem Netzwerk für Hypophysen- und Nebennierenerkrankungen e.V., die wertvolle Aufklärungsarbeit zu dieser so seltenen Erkrankung leisten. Nicht weniger danke ich allen Fachärzten, Psychologen, dem Pflegepersonal und meiner Hausärztin für ihre Dienste, die mich zurück in die Spur geholt haben.
Wie ich mit Schicksalsschlägen und negativen Erfahrungen umgehe, hat sich grundlegend verändert. Als ich mit Fibromyalgie zum Schmerzpatient werden, ist meine Geisteshaltung bereits eine ganz andere als noch vor 10 Jahren. Auch anfängliche Nebenwirkungen der Medikation – die für mich den Ausdruck „unerwünschte Wirkungen“ erschreckend neu definieren – beeinflussen mich kaum negativ.
Erneut auf die Probe gestellt werde ich 2022. Taubheitsgefühle in Fingern und Zehen sowie starke andauernde Kopfschmerzen, lassen mich erneut auf die diagnostische Reise gehen. Diese endet in der Hämatoonkologie. Denn dort kennt man sich mit Polyzythämie aus. In einfachen Worten lässt sich Polyzythämie wie folgt erklären. Unser Blut besteht aus festen und flüssigen Bestandteilen. Diese stehen in einem bestimmten gesunden Verhältnis zueinander. Verändert sich dieses Verhältnis zugunsten der festen Bestandteile, verliert unser Blut einen Teil seiner Fließfähigkeit. Es wird dickflüssig und erreicht nicht länger die feinsten Blutgefäße unseres Körpers. Die Gefahr für eine Thrombose oder einen Schlaganfall ist stark erhöht.
Noch immer ist die erste Herangehensweise der Aderlass. Glücklicherweise nicht mehr im mittelalterlichen Sinne. Im Krebszentrum wird alle 4-8 Wochen ein Teil meines Blutes entnommen und durch sterile Natriumchloridlösung ersetzt. Dies führt man fort, solange sich gefährliche Werte auf diese Weise verhindern lassen. Als letzter Therapieansatz werden Chemotherapien notwendig. Aber das sind bisher ungelegt Eier, denen ich nicht unnütze Beachtung schenken möchte.
Schon immer ist es mir wichtig Mehrwert zu schaffen. Ich möchte meine Zeit sinnstiftend zubringen. Der Mensch ist von Natur aus strebsam und innovativ. Jeder hat Potenzial und Möglichkeiten. Seine Möglichkeiten nicht zu nutzen, käme dem gleich, eine Geburtstagsparty zu betreten, das Geschenk zu überreichen und es wieder mitzunehmen, wenn man geht.
Diesem Grundsatz möchte ich auch weiter treu bleiben. Trotz schwerem Handicap gelingen mir ein berufsbegleitendes Wirtschaftsingenieur-Studium und ein Studium in Business Administration. Ich gehe wieder all meinen Leidenschaften nach, weil ich gelernt habe, dass die Wurzel vielen Übels im Vergleich liegt. Den Moment genießen und sich daran erfreuen, was man erreicht. Nicht zurückblicken und darüber weinen, was man früher zu erreichen in der Lage war. Zu begreifen, dass diese Sicht aufs Leben die wichtigste Voraussetzung für Besserung ist, motiviert mich heute dazu, anderen Mut zu geben, ihre Träume nicht zu begraben. Denn eines haben wir alle gemeinsam. Krank oder gesund. Aus dem Leben kommen wir nicht lebend raus. Also sollten wir es sinnvoll nutzen und genießen.
Heute fließen meine Erfahrung, mein Ehrgeiz und meinen Leidenschaften – das Motorradfahren, das Reisen, Sport und Fotografie – in das Projekt Away on Leave.
Ich widme mich der Pflege tiefer zwischenmenschlicher Beziehungen sowie der Führung und Entwicklung zweier eigener Unternehmen – Pharma Concept und Business Evolution. Beide Unternehmen haben dieselbe Basis. Eine wertschätzende Kultur, Eigenverantwortung, Kommunikation und Begeisterung für das eigene Tun. Während sich Business Evolution der Organisationsentwicklung im Mittelstand verschrieben hat, liegt der Fokus von Pharma Concept auf Erhalt und Verbesserung der Arzneimittelqualität in der Intensivmedizin. Denn ohne solche Arzneimittel, müsste diese Zeilen jemand anderes schreiben.
Cheers, Greetz, bis dann
Daniel Lotz